von Gastprofessor Dr. Steffen Hven und Jamie Lee Moser
Perspektiven auf die ‹atmosphärische› Montage im Dokumentarfilm
Gespräch mit Gesa Marten
Wir haben uns mit Gesa Marten, Professorin für Künstlerische Montage an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, zum Gespräch getroffen, um über Atmosphären aus der Perspektive der Filmpraxis zu sprechen. Gesa Marten ist seit 1991 freiberufliche Dramaturgin und Filmeditorin mit einem Schwerpunkt auf der Montage formatfreier Dokumentarfilme und Dokumentarserien. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis. Im Gespräch haben wir uns über die Relevanz des atmosphärischen Tons, den Rhythmus, die Intuition und ihre Arbeit als Editorin für die Dokumentarfilme Eine deutsche Partei (2022) von Simon Brückner und The Driven Ones (2023) von Piet Baumgartner ausgetauscht.
Steffen: In unserem Projekt verstehen wir Atmosphären als wahrnehmbare Umgebung und als affektive Erfahrung, die zwischen dem Kunstwerk und den Zuschauer:innen entsteht. Wir erforschen die Funktions- und Wirkungsweisen filmischer Atmosphären und möchten gerne lernen, welche Rolle Atmosphären in der künstlerischen Montage von Dokumentarfilmen spielen. Wie denkst du über den Gefühlsraum, die Stimmung, den Ton und die atmosphärische Wirkung während des Montageprozesses nach? Wie blickst du als Dramaturgin und Editorin auf filmische Atmosphären?
Gesa: Aus meiner Sicht ist die primäre Aufgabe im Montageprozess eines dokumentarischen Films, eine Geschichte oder einen gedanklichen Verlauf aufzubauen. Sekundär ist, mit welchen Emotionen sich die Protagonist:innen bewegen oder welche Atmosphären die Situationen, also Räume oder Landschaften haben. Ich lasse sie erstmal auf mich wirken und überlege, wie sie der Erzählung dienlich sind. Ich kann bei der dokumentarischen Narration viel mehr gestalten als beim fiktionalen Film. Ich versuche, meine subjektive Wahrnehmung des Geschehens und der Protagonist:innen im Filmmaterial und die Antwort auf die Frage, was wir im Film erzählen wollen, in die Verdichtung der Szenen umzusetzen. Für mich hängt die Kreation einer Atmosphäre besonders mit der Figuren-Charakterisierung und den Figurenverhältnissen zusammen. Das ist etwas sehr Subjektives, wie zugleich mein Anspruch, etwas abbilden zu wollen, das für mich im Material sichtbar ist. Mit diesem Paradoxon des Montagedenkens müssen wir im dokumentarischen Film arbeiten und etwas kreieren. Ich werde also eine dokumentarische Szene schneiden, möchte sie aber zugleich inhaltlich und im Ton nicht verändern, denn ich habe eine ethische Verantwortung für die ähnliche Wiedergabe der Szene.
Steffen: Gerade weil Atmosphären nicht neutral sind und sie in ihrer Intensität variieren können, geht es um das ‹Wie›, also um die Frage, wie eine Atmosphäre wirkt, oder anders formuliert, um einen atmosphärischen Ton. Ich kann mir vorstellen, dass es bei den Dokumentarfilmen Eine deutsche Partei und The Driven Ones besonders wichtig war, den richtigen Ton zu finden, der, wie du schon erwähnt hast, mit einer Verantwortung einhergeht.
Gesa: Absolut! Und wir sind uns mit der Vokabel total einig. Eine Atmosphäre erzeugt einen Ton. Wir diskutieren schon bei einem sehr rohen Rohschnitt des Films über den Ton und das Tunen einer Szene. Mit Ton meine ich die Erzählinstanz, die Erzählperspektive und die Haltung eines Films. Dabei sollten sich die Zuschauer:innen aber immer noch selbst eine Meinung bilden können. Wir wollen durch die Montage eine Glaubwürdigkeit erschaffen und einen angemessenen Ton erzeugen.
Steffen: Wie habt ihr beim Dokumentarfilm Eine deutsche Partei die Geschichte aufgebaut und einen angemessenen Ton gefunden?
Gesa: Der Regisseur Simon Brückner hat seinen Film Eine deutsche Partei selbst gedreht. Er hat sich beispielsweise in die Grundgesetz- oder Corona-Diskussion der AfD-Fraktion gesetzt und die Kamera in der Mitte aufgestellt, mit dem Ziel, das gesamte Gespräch rund um ihn herum, so gut wie es mit nur einer Kamera geht, zu covern. Die 600 Stunden Filmmaterial, die der Regisseur in über zweieinhalb Jahren produziert hat, sollten zu einem Film von 90 Minuten werden. Was sind nun die Aufgaben der Editor:innen? Zunächst werden die 600 Stunden Material gedanklich in vielleicht 150 Szenen zerlegt. Dann werden diese Bausteine in der Montage verdichtet und eine Dramaturgie erarbeitet, die keiner chronologischen Erzählung, sondern eher einem sinnvollen Diskursablauf folgt. Ich würde sagen, wir sind in ein Kontra-Heldenreise-Storytelling gegangen, denn wir wollten nicht, dass Mitfiebern mit der Partei beim Verfolgen ihrer Ziele entstehen könnte. Wir haben verstanden, dass wir Verfremdungseffekte anwenden müssen, damit das Publikum sich nicht identifiziert. Daher haben wir uns für die Kapitelunterteilung entschieden und versucht, die Funktionen einer Partei aufzuzeigen, die Rechtsradikalität zu positionieren und den noch viel radikaleren Nachwuchs zu thematisieren. Unser größtes Risiko war, dass der Film zu einem Werbefilm für die AfD wird oder die AfD den Film toll finden würde. Das ist nicht der Fall, aber es war unsere Angst. Wir wollten also unseren Standpunkt ablesbar machen. Es ist ein sehr ernster Ton. Also zum Beispiel hätte man die AfD tatsächlich sehr viel lächerlicher darstellen und damit auch Witz erzeugen können. Das wiederum schien uns nicht der richtige Ton zu sein, weil es zur Verharmlosung führt. Das touchiert das Phänomen der Atmosphäre auf jeden Fall.
Steffen: Ja, denn theoretisch wären aus dem gleichen Material unterschiedliche Atmosphären möglich. Um die Ernsthaftigkeit der politischen Lage zu zeigen, sind sozusagen Rahmenbedingungen gefragt, die die Rechtsradikalisierung der AfD, die erhitze Stimmung und die Spaltung in der Bevölkerung, die aus dem Filmmaterial hervorgehen, und die breitere politische Atmosphäre, in der dies geschieht, entsprechend wiedergeben, damit die Zuschauer:innen diese ernste, rechtsradikale und gespaltene politische Lage wahrnehmen.
Gesa: Auf jeden Fall, aber ich würde eher von Konnotationen als von Rahmenbedingungen sprechen. Atmosphären erzeugen Bedeutungen. In der Montage versuchen wir zu antizipieren, wie etwas verstanden und wie etwas empfunden werden kann. Diese Vorstellung von Wirkung im Montageprozess ermöglicht es mir Kriterien zu erhalten, um eine Szene oder einen Charakter zu gestalten. Wirkt eine Figur, wie zum Beispiel Aron, einer der jungen AfD-Mitglieder, sowohl aggressiv wie auch jungenhaft unerfahren, kann ich auf diese Ambivalenz fokussieren und andere Elemente weglassen. Entscheidend sind dabei auch die Fragen: Was bedeutet es und wie kann es gelesen werden, wenn ich eine Einstellung vier Sekunden länger laufen lasse? Was bewirkt das? Wohin möchte ich mit der Szene gehen, woher komme ich?
Jamie Lee: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Montagerhythmus und das Timing, um bestimmte Reaktionen oder Stimmungen der jeweiligen Situationen hervorzuheben?
Gesa: Es geht unter anderem darum, wie schnell verstehe ich eine Reaktion und wie kann ich den Wechsel von einer Reaktion zur nächsten gestalten, zum Beispiel in den Szenen, wo die AfD-Mitglieder untereinander diskutieren. Wie lange bleibe ich in dem montierten Schuss-Gegenschuss auf der Person, die spricht und wie lange auf einer Reaktion? Und weshalb? Die Zuschauer:innen haben das Timing schnell verstanden, deshalb kann es spannend sein, wenn noch eine überraschende Reaktion hinzukommt, zum Beispiel nach dem Zweifel kommt der Trotz oder wenn die Reaktion anschließend verbalisiert wird.
Steffen: Wenn wir nun zum Dokumentarfilm The Driven Ones übergehen, aber immer noch beim Montagerhythmus bleiben, fällt auf, dass nicht nur die jungen Protagonist:innen, die den Aufstieg zur Wirtschaftselite anstreben, wortwörtlich ‹driven› wirken, sondern auch der Film selbst.
Gesa: Ja, das hat einen interessanten Hintergrund, denn ich habe diesen in hoher Schnittfrequenz vormontierten Film übernommen. Ich habe das Tempo dann verlangsamt, allerdings ist es immer noch nicht langsam. Ob die Länge oder der Rhythmus eines Films richtig sind, hat verschiedene Gründe. Zunächst sollte die Erzählung der Atmosphäre entsprechen, damit meine ich, dass wenn wir die Protagonist:innen als getrieben empfinden, dann sollte eine getriebene Atmosphäre erzeugt werden: immer unter Druck. Hinzu kommt, dass in The Driven Ones in 90 Minuten kurzer Erzählzeit äußerst viel erzählt wird, nämlich 5 Protagonist:innen in 5 Jahren erzählter Zeit. Es geht dabei auch um die Entscheidung, wie viel Beobachtungszeit gebe ich den Zuschauer:innen. Wenn die Inhalte netflixartig an dir vorbeifliegen, dann trivialisiert das den Inhalt und entmündigt dich. Zugleich sind Kontraste möglich, in dem ich die verschiedenen Energien der jeweiligen Szenen in einen Zusammenhang bringe, zum Beispiel von energievoll zu ruhig oder anders herum. Bei The Driven Ones haben wir außerdem mit einer Komponistin zusammengearbeitet. Es hilft, wenn ich mit Musik oder Sound experimentiere, um die Effekte zu testen und eine ‹Atmo› zu erzeugen.
Steffen: Je nachdem welche Musik dazukommt, verändert sich die Atmosphäre. Das führt uns nochmals auf die Rahmenbedingungen oder Bedeutungen zurück, die affektiv sind und nur bedingt sprachlich. Würdest du sagen, dass diese Mechanismen explizit oder implizit in die Gestaltung einfließen?
Gesa: Für mich geht es in einem ersten Moment auf das eigene körperliche Spüren und die eigene Intuition zurück. Erfahrene Editor:innen sind sich des Einsatzes ihrer Mittel und ihrer künstlerischen Strategien durchaus bewusst, auch wenn sie spontan erfolgen. Bei der Frage, wie Musik Atmosphäre schafft, muss auch über Konventionen und Stereotype gesprochen werden. Ungut, wenn uns das nicht bewusst wäre.
Jamie Lee: Ich denke, es ist wichtig, dass die Editor:innen ihre eigene Persönlichkeit und ihr Können einbringen, wenn sie die Atmosphäre, den Ton oder die Stimmung als ‹richtig› empfinden. Für eine Editor*in wäre somit eins der wichtigsten Tools, neben dem Videoschnittprogramm, die Entwicklung dieser Fähigkeit, die wiederum auch mit Erfahrung und Wissen zusammenhängt.
Steffen: Im Sinne eines verkörperten Wissens, wie es Karen Pearlman beschreibt.
Gesa: Ich würde sagen, was ich über viele Jahre gelernt habe, sind Wirkmechanismen. Das hat weniger mit Regeln und Normen zu tun, sondern mit der Erfahrung von Wahrnehmung und Gestaltung von Kontext. Das könnten wir zum Beispiel als Erfahrungswissen bei den Zuschauer:innen genauso wie bei mir beschreiben. Zugleich muss die Wirkung aber immer wieder neu ausprobiert und erkundet werden. Auch die Subjektivität hat ihre Grenzen, denn das was ich spüre, wirst du immer anders empfinden als ich. Wir spüren Atmosphären, aber dieses sinnliche Spüren bleibt dynamisch und unabgeschlossen.